Interview von Dan Kersch mit dem Luxemburger Wort

"Die Sozialleistungen sind tabu”

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Dan Kersch, in den Monaten nach dem Lockdown ist die Arbeitslosigkeit kontinuierlich angestiegen. Zwar zeichnete sich zuletzt eine leichte Entspannung ab, doch die Situation am Arbeitsmarkt bleibt sehr ernst. Wie schätzen Sie die Entwicklung in den nächsten Monaten ein?

Dan Kersch: Wir können die Statistiken nicht schönreden. Die Lage ist ernst und ich gehe davon aus, dass die Zahlen in den nächsten Monaten nicht wirklich besser werden. Zwar sank die Quote nach 6,6 Prozent im Juli und 6,9 Prozent im Juni im August auf 6,4 Prozent. Laut den Projektionen des Statec müssen wir aber mittelfristig mit einer Arbeitslosenquote von sieben Prozent rechnen. Der Anstieg in den ersten Monaten der Krise war hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Betriebe keine Mitarbeiter einstellten. Nun stellen wir fest, dass die Zahl der Neueinschreibungen steigt. Das liegt zum einen daran, dass die Schulabgänger zurzeit auf den Arbeitsmarkt drängen. Es liegt aber vor allem daran, dass viele Unternehmen die Krise jetzt erst richtig zu spüren bekommen und Mitarbeiter entlassen. So lange die Wirtschaft, sich nicht erholt, wird es nicht zu einer dauerhaften Entspannung auf dem Arbeitsmarkt kommen.

Luxemburger Wort: Wird die ADEM mit dem Ansturm fertig?

Dan Kersch: Die ADEM ist zum Glück wesentlich besser aufgestellt als noch vor einigen Jahren. Allerdings drohen sämtliche Anstrengungen, die gemacht wurden, um eine bessere individuelle Betreuung der Arbeitsuchenden zu ermöglichen, durch den Ansturm wieder zu verpuffen, oder zeitlich ausgebremst zu werden. Das macht mir Sorgen. Mit den Zahlen, so wie sie sich heute infolge der Pandemie präsentieren, konnte niemand rechnen. Wir stellen im Augenblick zwar neue Mitarbeiter bei der ADEM ein, doch die müssen erst noch eingearbeitet werden. Ich bin daher froh, dass die Arbeitsagentur über ein starkes Führungsteam verfügt. Das Direktionskomitee wird demnächst vollständig sein. Der Direktorin Isabelle Schlesser stehen dann drei beigeordnete Direktoren zur Seite, einer für das operationelle Geschäft, einer für den budgetären Bereich und der dritte für die Projekte, etwa im IT-Bereich.

Luxemburger Wort: Der Anstieg der Arbeitslosigkeit trifft die Jugendlichen besonders stark. Die Zahl der Arbeitsuchenden unter 25 Jahren ist in den vergangenen Monaten rasant angestiegen.

Dan Kersch: Das stimmt leider. Wir müssen die Jugendarbeitslosigkeit deshalb konsequent angehen. Jeder Jugendliche, der keine Arbeit hat, ist einer zu viel. Die jungen Menschen müssen über die Jugendgarantie eine Chance erhalten. Ich mache mir vor allem Sorgen um die Jugendlichen unter 25 Jahren, die kein Anrecht auf eine staatliche Unterstützung haben, auch nicht auf den Revis. Wir werden spezifische Weiterbildungsmöglichkeiten schaffen. Die Gespräche in der Regierung laufen.

Luxemburger Wort: Laut den aktuellen Statistiken schreiben sich immer mehr Grenzgänger bei der ADEM ein. Wie steht es eigentlich um die europäische Neuregelung des Arbeitslosengeldes, laut der die Länder für das Arbeitslosengeld aufkommen müssen, in denen die Beschäftigten arbeiten?

Dan Kersch: Die Reform steht im Augenblick nicht mehr im Fokus. Ich möchte aber daran erinnern, dass Grenzgänger, die ihren Job verloren haben, sich auch heute schon bei der Arbeitsagentur in Luxemburg einschreiben können. In den vergangenen Jahren haben aber nicht so viele Pendler von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wie jetzt.

Luxemburger Wort: Zu Beginn der Krise wurde die Kurzarbeit auf sämtliche Branchen ausgeweitet. Der Beschäftigungsfonds hat unkompliziert Vorauszahlungen getätigt, um die Betriebe zu entlasten. Welche Entwicklung zeichnet sich hier ab?

Dan Kersch: Die Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit beantragen, ist zuletzt deutlich gesunken, auf zuletzt etwa 3 000 Unternehmen. Das sind aber immer noch sehr viele. Mittlerweile gilt wieder das Normalregime, das heißt, die Betriebe müssen Kurzarbeit beantragen, sie zahlen auch die Löhne, die sie dann nach einem positiven Bescheid vom Konjunkturkomitee im Nachhinein für die Mitarbeiter, die wirklich von der Maßnahme betroffen waren, vom Beschäftigungsfonds erstattet bekommen.
Fast alle Wirtschaftszweige sind betroffen, vor allem aber das Gaststättengewerbe, die Tourismusbranche und der Eventbereich. Diese drei Sparten machen die Hälfte der Betriebe aus. Kurzarbeit ist zwar ein wirksames Instrument im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, es stellt sich mittelfristig aber auch das Problem des unlauteren Wettbewerbs. Wir müssen verhindern, dass einige Betriebe es sich einfach machen und Kurzarbeit beantragen, während andere mühsam versuchen, sich über Wasser zu halten. Das wird nicht einfach werden. Wir müssen deshalb im Konjunkturkomitee alle ân einem Strang ziehen.
Es stellt sich auch die Frage, wie lange man einen Betrieb über die Maßnahme überhaupt am Leben halten soll oder kann und ab wann man in ein Fass ohne Boden investiert. Diese Entscheidung kommt einem Drahtseilakt gleich, man kann keine allgemeine Regeln aufstellen, dafür ist die Situation in den Unternehmen zu unterschiedlich. Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen gemeinsam nach einer adäquaten Lösung suchen.

Luxemburger Wort: Apropos Sozialpartner. Kommt es wie vorgesehen zu einer weiteren Tripartite-Runde in diesem Herbst?

Dan Kersch: Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Im Augenblick laufen die sektoriellen Dreiergespräche, etwa bei Arcelor und bei der Luxair. Dort werden viele Probleme erörtert, die normalerweise in einer großen Tripartite-Runde geklärt worden wären. Darüber hinaus sind direkte Konsultationen mit allen Akteuren geplant. Die Regierung braucht den Input der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände. Anschließend werden wir dann entscheiden, ob noch eine Tripartite-Runde einberufen wird oder nicht.

Luxemburger Wort: Wie viel Geld wurde bislang in die Kurzarbeit investiert?

Dan Kersch: In einem normalen Jahr chiffrieren sich die Ausgaben des Beschäftigungsfonds auf etwa 700 Millionen. In diesem Jahr werden es schätzungsweise 1,9 Milliarden Euro sein. Natürlich werden auch Gelder zurückfließen, weil zahlreiche Betriebe zu hohe Vorauszahlungen erhalten haben. Ich rechne mit Rückzahlungen in Höhe von etwa 350 Millionen Euro.
Viele Unternehmen haben die Vorschüsse, die zu viel ausbezahlt wurden, schon zurückbezahlt.

Luxemburger Wort: Zurzeit laufen die Vorbereitungsgespräche für den Haushalt 2021. Wie sieht es für Ihr Ressort aus?

Dan Kersch: In der Vergangenheit musste der Staat den Beschäftigungsfonds mit bis zu 150 Millionen Euro bezuschussen. Angesichts der insgesamt guten Entwicklung konnten wir den Beitrag zuletzt auf etwa fünf Millionen Euro herunterfahren. In diesem Jahr wird dies bei Weitem nicht reichen, der Staat muss also erheblich nachlegen, um die Finanzierung abzusichern. Vor nicht allzu langer Zeit gab es übrigens eine Debatte über die Solidaritätssteuer, die bei der Finanzierung des Beschäftigungsfonds den Löwenanteil ausmacht. Damals wurde eine Absenkung der Steuer gefordert. Ich bin froh, dass die Idee verworfen wurde. Wir denken aber auch nicht daran, die Solidaritätssteuer anzuheben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Fonds direkt über den Haushalt finanziert werden muss.

Luxemburger Wort: Womit wir dann bei der Steuerpolitik wären. CSV-Präsident Frank Engel hat eine Vermögenssteuer für Privatpersonen und eine Erbschaftssteuer in direkter Linie gefordert, um die Krise zu stemmen. Sie sind ihm in einer ersten Reaktion zur Seite gesprungen. Premierminister Bettel hat dem Vorstoß hingegen eine klare Absage erteilt. Bahnt sich nun ein Streit innerhalb der Koalition an?

Dan Kersch: Nein, eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass es deswegen zu einem Koalitionsstreit kommt.
Das Koalitionsabkommen sieht weder eine Vermögenssteuer noch eine Erbschaftssteuer in direkter Linie vor. Daran wird die LSAP sich auch halten. Wir sind ein verlässlicher Partner. Man kann die Spielregeln nicht während des Matchs ändern. Natürlich gehen die Meinungen der drei Parteien in der Steuerfrage auseinander. Doch das Regierungsprogramm zählt. Damit ist die Frage in dieser Mandatsperiode nicht akut.

Luxemburger Wort: Wie sehen die Vorstellungen der LSAP in der Steuerfrage aus?

Dan Kersch: Präsident Yves Cruchten hat unsere Position bereits erläutert. Eine Erbschaftssteuer in direkter Linie ist nicht der richtige Weg.Darüber herrscht in der Partei breiter Konsens. Früher oder später müssen wir aber über eine intelligent gestaffelte Vermögenssteuer nachdenken. Im Moment ist es aber noch zu früh. Wir befinden uns mitten in der sanitären Krise und wissen nicht, was noch alles auf uns zukommen wird. Wir kennen weder die ökonomischen noch die sozialen Folgen der Pandemie. Spätestens im Wahlkampf 2023 müssen sich sämtliche Parteien allerdings in der Steuerfrage positionieren. Die Steuergerechtigkeit wird das herausragende Thema bei den nächsten Wahlen werden.

Luxemburger Wort: Die Erbschafts- und die Vermögenssteuer stehen nicht im Regierungsprogramm, die Stock options und die Spezialfonds schon. Wann wird es in den beiden Punkten zu Reformen kommen?

Dan Kersch: In der geplanten Steuerreform waren Änderungen bei den Stock options und den Spezialfonds bereits enthalten. Die Arbeiten waren so gut wie abgeschlossen. Wegen der Pandemie und deren Folgen wird es nun verständlicherweise nicht zu der ursprünglichen Version der Steuerreform kommen. Wir mussten also wieder praktisch bei Null anfangen. Die Arbeiten gingen über die Sommermonate weiter. Wir werden demnächst in der Frage der Stock options und bei den Spezialfonds Klartext reden, die Koalition wird innerhalb kürzester Zeit zeigen, dass sie handlungsfähig ist.

Luxemburger Wort:
Was heißt demnächst?

Dan Kersch: Demnächst bedeutet sehr zeitnah. Premierminister Bettel und Finanzminister Gramegna werden die Maßnahmen präsentieren.

Luxemburger Wort: Die Krise hat den Haushalt gesprengt. Kommt es in irgendeiner Form zu einer Steueranhebung?

Dan Kersch: Diejenigen, die die direkte Verantwortung für die Finanz- und Steuerpolitik tragen, werden sich in Kürze in aller Klarheit äußern.
Es ist nicht an mir, ihnen hier vorzugreifen. Ich kann nur für mein Ressort sprechen: Es wird nicht zu einer Änderung bei der Solidaritätssteuer, die die Haupteinnahmequelle des Beschäftigungsfonds darstellt, kommen.

Luxemburger Wort: Und wie positioniert sich Ihre Partei in der Steuerfrage?

Dan Kersch: Wie gesagt, zum jetzigen Zeitpunkt ist es einfach zu früh, um sich festzulegen. Ich kann aber sagen, dass für die LSAP eine Anhebung der Lohnsteuer und der Mehrwertsteuer nicht infrage kommt. Auch die Sozialleistungen sind tabu. Wir befinden uns also in einer Situation, in der wir mehr Geld aufwenden müssen, um die soziale Kohäsion zu sichern, während gleichzeitig die Einnahmen wegbrechen. Wir müssen uns folglich Gedanken darüber machen, wie wir den Haushalt ins Gleichgewicht bringen. Das können wir beispielsweise erreichen, indem wir weitere Kredite aufnehmen. Im Gegensatz zur CSV sind wir der Meinung, dass dies angesichts der sehr niedrigen, ja sogar Negativzinsen, absolut sinnvoll ist. Zudem nehmen wir keine Kredite auf, um das Geld gleich wieder zu verteilen, sondern um zu investieren. Es wäre falsch, wenn wir in der Krise nicht investieren würden, sonst würde die Wirtschaft nämlich noch mehr unter Druck geraten. Ich verstehe nicht, was falsch daran sein sollte, wenn man in Krisenzeiten Geld für Schulen oder Krankenhäuser ausgibt. Wir müssen allerdings einen goldenen Mittelweg finden zwischen einer gesunden Verschuldung, von der auch die kommenden Generationen profitieren werden, und einer Steigerung der Einnahmen. Dieser Diskussion müssen wir uns stellen. Dies ist die Gretchenfrage, der sich alle Parteien stellen müssen.

Luxemburger Wort: Zuletzt wurde über eine Rivalität zwischen Ihnen und Gesundheitsministerin Paulette Lenert spekuliert. Gibt es Spannungen?

Dan Kersch: Über dieses Gerede können Paulette und ich nur lachen. Ich habe mich vor den Wahlen für sie starkgemacht, übrigens gegen den Willen einiger Entscheidungsträger innerhalb der LSAP. Mittlerweile sind aber alle der festen Überzeugung, dass sie die richtige Besetzung ist. Paulette ist ein Glücksfall für die Partei und für die Politik in Luxemburg insgesamt. Ein Zufallstreffer war sie aber nicht. Wir kannten ihre Qualitäten, bevor sie in die Regierung kam. Abgesehen davon ist es aber noch viel zu früh, um über einen Spitzenkandidaten oder eine Spitzenkandidatin zu diskutieren. Zum gegebenen Zeitpunkt werden Parteipräsident Yves Cruchten, Fraktionschef Georges Engel und ich selbst den Parteigremien einen Vorschlag unterbreiten. Dabei ist allein die Frage ausschlaggebend, wie wir die Partei am besten für die nächsten Wahlen aufstellen können. Die LSAP hat immer starke Persönlichkeiten hervorgebracht. Wichtig ist, dass es uns gelungen ist, als Team zu funktionieren. Und dies wird in der Öffentlichkeit auch so wahrgenommen. Das tut der Partei gut.

Luxemburger Wort: Die parteiinternen Streitereien gehören also der Vergangenheit an?

Dan Kersch: Es gibt sicherlich immer noch Meinungsverschiedenheiten.Doch die werden parteiintern ausdiskutiert. Die Streitereien überlassen wir jetzt der CSV.

Luxemburger Wort: Letzte Frage. Außenminister Jean Asselborn hat in einem RTL-Interview angekündigt, dass er bei den Wahlen 2023 noch einmal antreten wird. Wäre es nicht so langsam Zeit für eine Wachablösung?

Dan Kersch: Ich bin froh, dass er sich entschlossen hat, noch einmal zu kandidieren. Wer dem Parlament beziehungsweise der Regierung bis zum Schluss der Mandatsperiode angehört, der sollte ;aus Gründen der Solidarität gegenüber der Partei auch in die nächsten Wahlen gehen. Jean Asselborn tut dem Land gut, auch wenn er mit seiner direkten Art manchmal aneckt. Doch man muss auch auf der internationalen Bühne die Wahrheit sagen dürfen. Und genau das tut er.

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